70:20:10 – das Ende formalen Lernens?


70:20:10-Modell: was ist das?

Seit 1996 kursiert das 70:20:10-Modell durch die Personalentwicklung, zurückgehend auf  Michael M. Lombardo and Robert W. Eichinger. Dieses Modell beinhaltet die Aussage, dass 90% des Lernens informell stattfinden (70% durch die Arbeit selbst und zugehörige berufliche Herausforderungen, 20% durch den Austausch mit Kollegen), und 10% durch formales Lernen (Schulungen). Grundlage dieser Aussage war die Befragung erfolgreicher Führungskräfte dazu, wie sie ihre Kompetenzen erlangt haben.

 

Was bedeutet das für die Rolle von Schulungen (formalem Lernen)?

Einige Autoren sehen nun Sinn und Wichtigkeit von formalem Lernen in Frage gestellt. So stellt Jane Hart als Ergebnis ihrer Befragung mit 600 Teilnehmern zur Wichtigkeit verschiedener Lernformen als Ergebnis fest: „68% of those working in HR/L&D also consider training/e-learning to be of little or no value for them in the workplace“ (http://www.c4lpt.co.uk/blog/2013/04/22/company-training-of-little-value/). Charles Jennings schreibt in seinem Blog „the most effective and generally fastest way to improve and gain mastery will be through workplace and social learning.“ (http://charles-jennings.blogspot.de/2011/08/social-workplace-learning-through.html).

Das kann ziemlich erschütternd klingen für Leiter von Bildungsorganisationen. Kommt nun das Ende der Schulungen?

– Nein, denn das ideale Lernsetting muss auch den Arten des Lernbedarfs und der Selbstlernkompetenz des Lerners Rechnung tragen. Es gibt durchaus Konstellationen, in denen formale Lernangebote weiterhin wichtiger Bestandteil der Lernförderung sind, was ich anhand zweier Modelle im Folgenden verdeutlichen möchte.

 

Stärke und Potential des formalen und informellen Lernens

Dimension: Arten des Lernbedarfs

Die Stärken und das Potential beider Lernarten werden von Mosher und Gottfredson entlang der Art des Lernbedarfs näher beleuchtet (Bob Mosher, Con Gottfredson (2011) „Innovative Performance Support: Strategies and Practices for Learning in the Workflow“: Mcgraw-Hill). Sie beschreiben mit ihren „5 Moments of Need“ verschiedene Arten des Lernbedarfs und erörtern, welche Form des Lernens welchen Bedarf adressiert entlang des Lernprozesses.

Formal:

  • Neues erlernen (Bsp: neues Fachgebiet aneignen)
  • Mehr von etwas lernen (Bsp.: Grundlagenwissen in einem Fachgebiet verbreitern oder vertiefen)

Informell:

  • Etwas anwenden oder erinnern (Bsp.: Anwendung des neuen Fachgebiets im Alltag)
  • Ein Problem bewältigen (Bsp.: Papierstau im Drucker)
  • Wandel bewältigen (Bsp.: Umgang mit einer neuen Unternehmensstrategie im Alltag)

Dabei folgen die Arten des Lernbedarfs zugleich den zeitlichen Phasen eines Lernprozesses. Für den Neueinsteiger in einem Unternehmen oder für den Fall, dass man sein Wissen erweitern oder vertiefen möchte, ist durchaus formales Lernen angezeigt, da es um ein relativ großes Wissensgebiet geht, wozu man effizient einen Überblick erhalten und hindurchgeführt werden möchte. In den Fällen der Anwendung durch Übertragung dieses erlernten Wissens auf den Alltag, der Bewältigung eines Problems in der Anwendung des Erlernten oder der eigenen Anpassung an grundlegenden Wandel im Unternehmen ist informelles Lernen gut möglich.

 

Dimension: Selbstlernkompetenz des Lerners

Eine weitere Perspektive eröffnet Prof. Axel Koch mit der Selbstlernkompetenz des Lerners (https://transferstaerke.de/medien_3_944881297.pdf). Er argumentiert, dass das 70:20:10-Modell die Individualität des Lerners und dessen Selbstlernkompetenz verkennt, da es, zumindest im Bereich der 90% informellen Lernens, den motivierten Selbstlerner voraussetzt.

Er stellt dem ein 20:30:30:20-Modell der Selbstlernkompetenz gegenüber. Demnach verteilt sich die Selbstlernkompetenz wie in einer Normalverteilung folgendermaßen:

  • 20 Prozent der Lerner sind lernagil, veränderungsoffen und transferstark. Sie haben die Selbstlernkompetenz, um das 70:20:10-Modell zu leben.
  • 30 Prozent der Lerner sind besser als der Durchschnitt, kennen aber den eigenen Lernstil und wirksame Techniken noch nicht gut genug.
  • 30 Prozent der Lerner sind unter dem Durchschnitt. Ihnen fehlt es an Wissen, Einstellungen und Techniken des Selbstlernens. Hier braucht es Unterstützung beim Erlernen des Lernens, zum Beispiel durch formale Lernangebote.
  • 20 Prozent der Lerner sind aufgrund ihrer Persönlichkeit und Lernbiographie benachteiligt. Hier sind große Anstrengungen erforderlich, um sie zu ihren Lern- und Veränderungszielen zu bringen.

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